Der Krieg ist vorbei.
Ich denke, dass es Menschen gibt, die an Kulturschocks glauben, und solche, die es nicht tun. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass ich gerne einer von der Sorte wäre, der über dieses Konzept genauso laut lacht, wie ein stocksteifer Atheist über Gott. Erfahrung belehrt mich jedoch leider eines Besseren und heute weiß ich, dass es wohl einfach Kulturschocks in meinem Leben geben muss. Die Beweislage hierfür ist schlichtweg zu belastend. Doch ich bin endlich angekommen. Als ich heute das erste Mal meinen Gasherd zum Laufen bekommen und eine Tasse Tee gekocht habe, habe ich gleichzeitig endlich das Ende des Ausnahmezustands und den Einzug von ein wenig Eingelebten-Komfort zelebriert. Ich kenne mich grob in meiner Nachbarschaft aus, weiß, wenn der Riksha-Fahrer absichtlich eine längere Route fährt, besuche zielsicher einen bestimmten Lebensmittelladen vor meinem Haus und habe einige Fächer meines völlig verstaubten Kleiderschranks endlich auf einen benutzbaren Standard gebracht. Ich esse sogar lokale Speise einigermaßen angstfrei, obwohl ich einen Imbiss, der direkt vor meinem Wohnkomplex sogenannte “Frankies” verkauft, bislang immer noch nicht angerührt habe. Ich habe keine Ahnung, was genau ein “Frankie” ist – wohl eine Art Wrap, den Bildern nach zu urteilen – aber der bloße Name, gepaart mit dem leicht angesäuerten Aussehen des Geschäftes, erzeugt in mir einen instinktiven, tiefen Respekt vor der Erfahrung, die ein Besuch dort wohl bedeuten könnte. Abgesehen davon freunde ich mich sogar mit dem arythmischen Alltag an, in den Sukriti und Chandan mich mit hineinziehen. Jeder Tag ist ein Ausflug und ein wenig ein Abenteuer, und obwohl die beiden Mitarbeiter von AES mir zusichern, dass es in ein-zwei Wochen bald besser werden soll, bin ich mir mittlerweile ziemlich sicher, dass es nie einen komplett regulären Alltag geben wird. Noch etwas hat sich verändert, denn Ganapati, die Hindu-Feiertage zu Ehren Ganeshas, sind endlich vorüber. Das bedeutet: kein lautes nächtliches Getrommel mehr, etwas weniger verstopfte Straßen und wieder regulär geöffnete Geschäfte und Büros! Anam bemitleidete mich mehr als einmal zurecht dafür, direkt nach meiner Ankunft in Indien in ein solches Spektakel geworfen zu werden, das selbst eingefleischten Indern schnell auf die Nerven gehen kann. Doch auch das ist jetzt Geschichte und obwohl ein Teil von mir sehr bedauert, mental noch nicht anwesend genug gewesen zu sein, um alles von diesem besonderen Fest mitzubekommen, ist ein anderer Teil von mir ganz froh und neugierig darauf, was ein alltägliches Mumbai eventuell noch an Mehrwert zu bieten hat. [Für alle, die es interessiert, gibt es hier übrigens einen ausführlicheren, englischen Artikel zu Ganapati] Die neu gewonnene Komfortzone bietet endlich auch die Möglichkeit, über mittelfristige Pläne und Ziele nachzudenken, darüber, was ich noch erledigen, erleben und genießen möchte. Mit mir im Gepäck trage ich immer noch stets die Hausarbeit über “Die religiöse Bedeutung von Bäumen”, die immer spannender wird, je mehr Leute ich in Diskussionen darüber verwickele. Ich plane eine Bachelorarbeit über Ökodörfer, für die die Feldforschung vorbereitet werden will, und nebenher fange ich noch an, Blogeinträge und Medien für AES zu gestalten. Privat zieht es mich momentan in den Norden des Landes, um dort ein bisschen mehr kischeehaftes Indien erleben und urbane Überraschungen hinter mir lassen zu können, doch das wird vermutlich noch einige Wochen hinten angestellt werden müssen. Nichtsdestotrotz können auch diese Dinge ja ebenfalls bereits beachtet und geplant werden… vielleicht bin ich ja doch noch nicht ganz in der asiatischen Spontanität angekommen. Doch eine Sache, die bald unweigerlich auf mich zukommen wird, ist ein bestimmtes Maß an Sinnfindung für die Zeit mit AES. Momentan bin ich noch ein Besucher, ein Gast von Sukriti und Chandan, der sich an alle Bewegungen der beiden klettet ohne selbst besonders viel ausrichten zu können. Das geht so weit, dass ich mich bemerkenswert schlecht fühle, wenn ich von AES als ein “wir” rede – trage ich doch momentan herzlich wenig zum Bestand oder Fortschritt dieser Organisation bei. Das wird sich noch zwangsweise ändern, in die eine oder andere Richtung. Ich kann mir sogar gut vorstellen, schließlich teilweise eine Rolle einzunehmen, in der ich, unabhängig von den tagtäglichen Aktivitäten der Organisation, auch eine eigene Form von Aktivismus praktizieren kann. Wie genau das aussehen soll, muss noch erarbeitet werden. Eingebungen und kreative Ideen werden übrigens immer gerne entgegengenommen! Ein Blick auf die kommenden Tage verrät mir noch mehr Ausnahmesituationen am Horizont! Morgen geht’s mit dem Bus ins Grüne und nächste Woche steht ein spannendes Meeting an. Ich habe also meinen Normalzustand umständehalber und für längere Zeit abzugeben.