Verschrobene verbotene Verliebtheit

Das ist ein Vorgeschmack.* Die letzte Woche hat einige Veränderungen mit sich gebracht und die Gravierenste davon ist wohl, dass ich erste intensivere Bekanntschaften schließen konnte. Als gerade so erwachsen werdender Mensch war ich bisher immer in Räumen unterwegs, die neue Bekannt- und Freundschaften einfach und alltäglich gemacht haben: Kindergarten, Schule, Freiwilligendienst, Studium. Und jetzt war ich plötzlich im Berufsalltag gelandet und zunächst völlig überfordert von der Aufgabe, meinem Leben ganz bewusst neue Menschen hinzuzufügen. Modernität sei Dank, hat aber auch das schließlich geklappt und ich bin in Kontakt mit einigen wirklich spannenden Leuten gekommen. Der größte Unterschied, den diese Veränderung mit sich bringt, ist, dass ich plötzlich nicht mehr bloß eigens selektierte Informationen erhalte: Bisher stellte ich Fragen und bekam Antworten. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Menschen, die nun Zeit mit mir verbringen, einfach um der Zeit willen, erzählen mir von sich aus das, was ihnen auf der Zunge liegt. Ich bin also plötzlich nicht mehr Interviewer sondern Zuhörer und gebe das Ruder der Konversation aus der Hand. Ich muss natürlich feststellen, dass das bei manchen einiges an sogenanntem “Trash talk” – also Logorrhoe – induziert. Wäre bei mir wahrscheinlich nicht anders. Aber in fast jeder Konversation stoße ich auf ein paar Goldstücke spannender kultureller oder persönlicher Information. Und ich merkte schnell, dass ich ein Lieblingsthema habe, das mir, wie natürlich, einen Riesenspaß macht und einen nicht enden wollenden Strom an spannenden Fragen beschert: Das schräge öffentliche Liebesleben Mumbais. Es wirkt zunächst wie ein kalter Ort, wenn man, kaum einen Tag gereist, plötzlich keine öffentlichen Zeichen von romantischer Affektion mehr zu sehen bekommt. Auf den Straßen dominieren gleichgeschlechtliche Gruppen: Rudel von Männern und Schulen von Frauen. Sieht man einmal gemischte Gruppen, gehen Männer und Frauen nebeneinander, nie miteinander, und ihre Gesichter wirken geschäftlich, wenn sie miteinander reden. Abends gehe ich gerne zur Promenade und ab und zu sogar auf die Steine, die einen 200m breiten Streifen vor der Wasserlinie bilden. Haben sich meine Augen an das Dunkel gewöhnt, tauchen plötzlich überall um mich herum weiße und bunte Flecken auf – die einzigen Zeugen unvorsichtig hell gekleideter Pärchen, die sich am gesamten steinigen Strand ihre Plätze gesucht haben und im Schutz der Dunkelheit Liebkosungen austauschen. Doch schon auf der Promenade und in Parkanlagen kann man ab Einbruch der Dämmerung Pärchen in unverholener Umarmung oder Hände haltend sehen. Sogar die Auffahrt auf die Schnellstraße ist schon am späten Nachmittag von sich küssenden Pärchen und ihren Motorrädern gesäumt. Natürlich kann ich bei so etwas nicht widerstehen, alle nur möglichen Informationen aufzusaugen, wie Tinte auf einem Deckblatt! Eltern wissen nichts von dem Liebesleben ihrer Kinder, erzählen mir meine Freunde. Die meisten ansatzweise traditionellen Familien haben Regeln, die das Führen von vorehelichen Beziehungen besonders knifflig machen. Ausgangssperren seien hier nur als das beliebteste Mittel angeführt. Ich bin bisher auch noch über keinen jungen Menschen gestolpert, der mir davon berichtete, dass seine Eltern ihm das Übernachten des Partners oder der Partnerin im Haus der Familie erlaubten. Und grundsätzlich kann das Zeigen von Intimität in der Öffentlichkeit potentiell sehr empfindlich aufgenommen werden. Da müssen Auswege geschaffen werden und da hilft dann eben nur freier Himmel und Dunkelheit. Mir wurde sogar anvertraut, dass Pärchen Kinokarten für den derzeit unbeliebtesten Film kaufen, um relativ ungestörte drei Stunden in den letzten Reihen des Vorführsaals für sich zu haben. Die ganze Nummer wirkt natürlich etwas skurril, schaut man um sich und entdeckt freizügige Werbeplakate für Dessous oder Erotik-Kunstbücher in Buchhandlungen. Ich wurde hier auch nicht nur einmal Ohrenzeuge von Gesprächen über Dating, Liebesleben oder Sex. Mumbai scheint begeistert von diesen Thematiken und die Bestsellerliste bestätigt das nur: Vor allem weibliche Schriftsteller scheinen die provokantesten Werke in diese Richtung zu publizieren und greifen Fragen auf, die vorehelichen Sex, verbotene Liebe, Missbrauch, Mutterschaft, und vieles mehr betreffen. Ich hatte schließlich vor kurzem ein interessantes Gespräch mit meinem Kollegen Chandan. Indien stehe, was Beziehungsleben (und vieles mehr) betrifft, an einem Generationenwandel: Die jüngere, unsere, Generation lehne die Werte ihrer Eltern ab und versuche, traditionellem Denken und seinen Beschränkungen zu entkommen. Gleichzeitig sei aber keineswegs eindeutig, was das elterliche Verhalten schließlich in puncto Kindererziehung ersetzen wird. Die Frage, wie mit privatem und öffentlichen Beziehungsleben umgegangen werden soll, bleibe weiterhin umstritten und verwirrend in einem so multireligiösem und multikulturellen Raum wie Mumbai. Chandan meinte, er wisse selber nicht, wie er einmal mit seinen Kindern in dieser Hinsicht umgehen werde. Für mich persönlich war das heimliche öffentliche Beziehungsverhalten am Anfang gleichermaßen befremdlich wie amüsant. Ich musste an erste Liebschaften während der Schulzeit denken, als noch niemand von etwas Wind bekommen sollte und man in Ruhe diese ersten Dinge miteinander ausprobieren wollte. Die Fremdheit ist mittlerweile einem sehr vertrauten Gefühl gewichen, wann immer ich mich an einem der “Küssen-erlaubt”-Orte aufhalte. Es stimmt mich sehr friedlich, zu wissen, dass sich hier so viele junge Menschen mit ihren Emotionen sicher fühlen, Traditionen brechen und neue Formeln für das junge Leben in dieser Stadt schreiben.     *Ich plane, einen etwas ausführlicheren, literaturgestützten Artikel im Laufe der nächsten Monate hierüber zu schreiben. Die fertige Arbeit wird vermutlich dann unter “Ethnographien” zu lesen sein.