Instinkte eines Pfarrerssohn
Ich habe diese Tendenz, egal wohin ich komme, beinahe immer und sehr schnell auf irgendeine Form christlicher Phänomene zu stoßen. Vielleicht macht das die Übung aus zahlreichen Italienurlauben, deren Ziele aus schleierhaften Gründen immer auch eine oder mehrere Kirchen enthielten. Vielleicht ist diese Eigenartigkeit aber auch genetisch veranlagt: als zweifacher Pfarrerssohn liegt es mir eventuell einfach im Blut, instinktiv auf die nächstbeste Kirche zuzusteuern. Mein innerer, christlich veranlagter Kompass, wenn man so will. Sei es, wie es ist: Kirchen und Gottesdienste in fremden Kontexten sind womöglich sehr passende Exemplare für die Faszination, die ich Interkulturalität und Fremdheit im Allgemeinen entgegenbringe. Sie sind nämlich vergleichsweise offensichtliche Träger jenes faszinierenden Paradoxons, das kulturell andersartige Orte umgibt. Auf den in christlichen Kontexten aufgewachsenen Beobachter wirken sie sowohl überraschend vertraut, als auch unerwartet befremdlich. Vertraut deswegen, weil es ein faktisch übergreifendes Phänomen darstellt, das man aus der Heimat kennt und an vielen anderen Orten der Welt wiederfinden wird. Befremdlich dagegen, weil es phänomenologisch völlig anders auftritt, als die gewohnte Situation aus dem heimatlichen Kontext. Im Falle des Gottesdienstes fallen zum Beispiel und vor allem sprachlich andersartig gestaltete Elemente ins Auge (bzw ins Ohr): Die Liturgie des jeweiligen religiösen Kontextes entblößt ihre Andersartigkeit nicht nur durch eine völlig andere Sprache. Sondern mindestens genauso sehr durch die bestimmte Wortwahl, deren Elemente Träger der religiösen Botschaft sind. Diese berührt den fremden Beobachter in diesem Beispiel am tiefsten, ist doch gerade die in der Liturgie verankerte Rhetorik das Element, das dem Religiösen zu einem großen Teil seinen ritualistischen Charakter und damit dem Teilnehmer die Vertrautheit verleiht. [stag_video src=”https://youtu.be/be9aPnMlTts”] In der Erfahrung des Fremden wird diese Vertrautheit nun insofern betrogen, als dass sich das, was wir in nurmehr einer Form kennen und wertschätzen, in völlig anderer Gestalt auftritt. Die meisten Menschen unserer neuen Umgebung werden jedoch an diesen für uns veränderten Formen sicher und enthusiastisch partizipieren. Genau das ist das Moment, in dem Fremdheit wahrgenommen wird. Denn wären wir alle diesen Situationen fremd, dann wären wir zumindest zwischenmenschlich nicht mehr verschieden und damit auch nicht derartig “fremd” zueinander. Ich möchte das noch ein wenig auf die Spitze treiben. Und zwar behaupte ich, dass die Intensität des Fremdheitsgefühls mit der der ursprünglichen Vertrautheit zu einer Situation direkt zusammenhängt: Je ritualisierter, persönlicher, und emotional verbundener eine Situation aus dem bisherigen Alltag, desto tiefgreifender die Fremdheitserfahrung in anderen kulturellen Kontexten. Anders gesagt: Das völlig unbekannte Dhal ist höchstens aufregend; die überhaupt nicht als solche identifizierbare Pizza hingegen schockiert mich zutiefst! Ich wende mich in derartigen Fremdheitssituationen gerne ganz bewusst den Gemeinsamkeiten zu, die mich fremd anfühlenden Menschen wieder näher bringen. Interessanterweise finden sich diese, meiner Beobachtung nach, sehr häufig in Symbolen wieder, die interkulturelle, häufig sogar weltweite Bedeutungssymmetrien haben. Im Fall der Kirche sind die Symbole bekannt: Kirchenschiff, Gemeinde und Predigender, Gekreuzigter Christus. Zwischenmenschlich kann das ein Fingerzeig sein, eine leichte Berührung, ein Lächeln. Interkulturelle Dekodierung, leicht gemacht!