Merkwürdige Metropole Mumbai

“Und, wie gefällt es dir hier?” Wenn es eine Frage gibt, die mich in den letzten Wochen verfolgt hat, dann muss es wohl diese sein. Das Schöne als Neuankömmling ist es, diese Frage ungestraft mit “Weiß ich noch gar nicht. Ist alles so neu hier!” beantworten zu können. Doch mit jedem verflossenen Tag hier sinkt bei mir die Glaubwürdigkeit dieser Aussage und es werden handfeste, idealerweise reflektiert positive Einschätzungen erwartet. Eine erste Bilianz erscheint also überfällig. Zunächst: Mumbai ist komisch. Warum? Weil es eine der größten Metropolen der Welt ist und ich keinen Supermarkt finden kann. Darum. Mumbai ist natürlich auch noch auf viele andere Weisen komisch: Der Flughafen liegt mitten in der Stadt, es gibt nur eine einzige Metrolinie an einer denkbar unpraktischen Stelle, der Verkehr bricht jeden Tag auf’s neue zusammen und das Konzept Gehweg ist scheinbar auch nicht wirklich populär. Es sind also hauptsächlich infrastrukturelle Aspekte die mich zu diesem Zeitpunkt verwirren, davon aber vor allem die allererste der obigen Seltsamheiten: Keine Supermärkte. Natürlich stimmt das nicht zu hundert Prozent. Es gibt durchaus einige Einkaufsläden, die man als Mini-Supermarkt bezeichnen könnte, aber verglichen mit anderen Städten… Und das trifft den sprichwörtlichen Nagel auf den Kopf: Andere Städte! Ich denke die große Verwirrung, die ich ob dieser ungewohnten Struktur verspüre, rührt einzig und allein von meiner bisherigen Einschätzung her, urbanen Exotismus in Europa, China, Hong Kong und Singapur ausreichend kennengelernt zu haben, um von keiner weiteren Stadt mehr aus den Latschen gehauen zu werden. Doch siehe da: Mumbai. Eine weitere Frage, die natürlich häufig an mich herangetragen wird ist die, wie es mir denn hier gehe. Mir geht es sehr gut, das kann man wohl nicht anders sagen: Ich schmause halbwegs selbstsicher an indischem Essen und exotischen Früchten, lebe allein in einer vergleichsweise gut ausgestatteten Wohnung, lerne langsam auch sehr nette Leute kennen, und habe eine sichere Nachbarschaft in Meeresnähe. Natürlich gibt es einige Dinge, die hier auch fehlen: Freunde, Familie, Ruhe, die erwähnten Supermärkte, Bibliotheken, saubere Wiesen, die kurzen Distanzen, Backofenpizza und sogar ein wenig Unialltag. Und Mangos. “Nicht die Saison”, sagen sie. Lächerlich! Es ist also natürlich nicht der siebte Himmel, aber für einen mittelfristigen Ausnahmezustand wirklich mehr als nur erträglich hier! Zuletzt macht bestimmt noch ein Wort zu meiner Arbeit Sinn. Während der letzten Wochen wurde ich hier vor allem immer mehr und aktiver eingebunden. Ich bin mittlerweile fest in einen Social-Media-Wochenplan eingeplant, verfasse einige Artikel (die in ähnlicher Version auch hier zu lesen sind) und bin bei so ziemlich allem immer mit dabei. Zeitlich steuert das leider ziemlich zielstrebig auf eine vollwertige 6-Tage-Arbeitswoche zu, sodass ich mir immer wieder aktiv Raum schaffen muss, um meine eigenen Projekte oder Freizeitaktivitäten verfolgen zu können. Und obwohl meine Kollegen wirklich schwer in Ordnung sind, musste ich in den vergangenen Tagen auch feststellen, dass die Organisation trotz allem immer noch ihre ökonomischen Interessen sehr stark priorisiert. Besonders diese Erkenntnis hat mich zwischenzeitlich stark verwirrt, führt Permakultur doch vor allem auch zwischenmenschliche Werte sehr lautstark ins Feld. Momentan verbuche ich jedoch auch das als einen Gewinn, beobachte und belausche ich meine Kollegen doch jetzt nur umso genauer, und versuche herauszufinden, wie wohl ich mich mit wie viel Profitgedanke fühle. Ich entdecke aber, dass ich mehr und mehr für das Wissen, das hinter Permakulturtechnologien steckt, zu begeistern bin, und dass meine der reinen Phantasie entspringenden Gedanken und Ideen im Plenum auf jeden Fall ernst genommen, häufig genug sogar mit in die Diskussion aufgenommen werden. In jedem Fall ist die Arbeit mit AES eine ungebrochen vielseitige und meist angenehme Tätigkeit, der ich gerne immer wieder eine oder zwei Stunden mehr abtrete. Meine Ziele für die nächsten Tage sind: Das Devanagari-Alphabet lernen, noch mehr Leute kennenlernen, einen Ruheort finden. Und Couscous kochen.

Erste Male 

Honeymoon-Phase. So wird die erste Zeit in einem fremden Land manchmal genannt. Weil alles zuerst rosiger erscheint, jede neue Entdeckung spannend und toll! Das ist auch gut so, ansonsten würde man diese ersten Tage vermutlich emotional gar nicht erst überleben. Und das trifft meine ersten paar zig Stunden hier eigentlich ziemlich auf den Kopf. Ich wohne in Bandra, einem für seinen prozentualen Expats-Gehalt berüchtigten Stadtteil Mumbais. Bandra liegt im Westen der Stadt und sein westlichster Streifen direkt am Meer. Über einen großen Hügel, genannt Pali Hill” drängen sich Hochhausbauten portugiesischen Stils (zumindest hat man mir versichert, es sei portugiesisch), fast ebenso hohe rankenumwachsene Bäume und Palmen. Dazwischen findet man kleine einstöckige und enge Imbisse, Einkaufsläden und Cafés, schmale schattige Gassen und wendige, um die Ecken brausende Rikschas. Die terrassenförmige Hügellandschaft könnte auf einer kleinen karibischen Insel stehen und die von Sitzgelegenheiten gesäumte Promenade Venice Beach in Kalifornieren zieren. Der Haken: Hügel und Promenade stehen in einem nur mäßig wohlhabenden Teil einer indischen Wirtschaftsmetropole, nicht im reichen Kalifornien und auch nicht in der touristischen Karibik; und das Gesicht dieser süßen Verheißungen verzerrt sich: Die schmalen Gassen sind müllüberladen, genauso wie der Felsen-“Strand” jenseits der Promenade und das Meer dahinter,  Alte und Kinder betteln auf den Straßen, magere Hunde und Katzen streifen wild und suizidal durch die Gegend, und der Verkehr in den bewohnten Teilen unterscheidet sich nur marginal von dem auf der überfüllten Ringstraße um den Bezirk. Doch alles was das heißt, ist, dass Bandra nach wie vor Indien ist, und ich bin eigentlich ziemlich dankbar, hier untergebracht zu sein. Den “Expatcharakter” bemerke ich als Neuling praktisch gar nicht, die Gegend ist abends vergleichsweise ruhig, es gibt ein paar gute Essensgelegenheiten um die Ecke, und eine Promenade ist immer noch besser als keine Promenade! Es ist der sanfte Einstieg in diese Metropole, deren schiere Größe ich bislang immer noch nicht begriffen habe. Hier also erlebe ich meine indischen Ersten Male: Die erste 30° heiße Nacht, das erste Straßenessen und die Furcht um die Folgen, die erste hüftgroße Fledermaus am Abendhimmel, die erste unbekannte Frucht, die erste kleine Echse in der Küche, die ersten Sprachbarrieren mit dem Hausverwalter und den Sicherheitskräften, die erste, nicht ganz so kleine Kakerlake in der Küche, die ersten 3 Tage ohne Internet und Handynetz. Wie gut, dass es die Honeymoon-Phase gibt!