Permakultur – Eins

“Permafrost in Indien? Im Spätsommer?” Es gibt einiges, das einem an dem Konzept Permakultur befremdlich vorkommen mag. Vielen meiner Freunden und Verwandten war, musste ich erstaunt feststellen, der Begriff jedoch schon von vorneherein nicht nur befremdlich, sondern sogar gänzlich fremd. Noch sehr viel erstaunter war ich jedoch, als ich merkte, dass selbst ich, der ich stolz jedem erzählte, ich würde nach Indien reisen, um dort Permakulturarbeit kennenzulernen, größte Schwierigkeiten hatte, diesen Begriff kohärent zu erklären. Rückblickend muss ich eine große Enttäuschung für alle meine ernsthaft interessierten Mitmenschen dargestellt haben, die sich bestimmt wunderten, warum ich eine derartige Reise auf mich nehme, um etwas zu verfolgen, das ich selbst nicht wirklich zu kennen scheine. Selbst auf die Frage, warum denn gerade ein Ethnologe an so etwas interessiert sei, hatte ich keine besonders überzeugende Antworten. Natürlich gibt es eine Lehrbuchdefinition. Permakultur ist, so Bill Mollison, die Wissenschaft von der bestmöglichen Anordnung von Komponenten in einem Muster oder System, um Ressourcen zu erhöhen, Energie zu erzeugen oder zu sparen, und Abfall oder Verschmutzungen zu vermeiden. Diese Erklärung ist sicherlich transparent und luzid genug, um alle Fragen bereits im Voraus und restlos zu klären. Dennoch seien an dieser Stelle noch ein paar weitere, ergänzende Informationen angeführt – wenn schon nicht zur Erleuchtung, dann wenigstens zur Unterhaltung der geschätzten Leserschaft. Der oben zitierte Australier Bill Mollison gilt, gemeinsam mit seinem Landsmann David Holmgren als Begründer des Permakulturkonzeptes im Jahr 1974. Gemeinsam entwickelten sie ein Regelwerk, wenn man so will, für die Entwicklung nachhaltig landwirtschaftlicher Gemeinschaften, das seine erste Verschriftlichung in dem 1978 veröffentlichten Werk “Permaculture One” erfuhr. Dieses und nachfolgende Publikationen der beiden Australier gelten bis heute als die Standardwerke der Permakulturbewegung schlechthin und bewaren ihre uneingeschränkte Gültigkeit. Der Begriff Bewegung ist insofern etwas irreführend, als dass das Konzept von Permakultur zunächst akademischen Ursprungs war. Mollison war zur Zeit der Begriffsfindung selbst Forscher im Feld und Psychologiedozent an der Universität von Tasmanien. Erst Jahre später legte er seine universitäre Lehrposition ab, um sich ganz der Lehre von Permakultur zu widmen. Der unmittelbare Erfolg der Permakulturidee fand sich allerdings nicht in den akademischen Kreisen Mollisons und Holmgrens, die hauptsächlich die wagemutige Interdisziplinarität der Idee infrage stellten, sondern bei anwendungsnäheren Umweltaktivisten und Landwirtschaftlern auf der ganzen Welt. Bis heute behält das Lehren und Lernen von Permakultur jedoch seinen semi-akademischen Charakter, der sich in Form von kodifizierten Curricula, ausgeklügelten Kursangeboten und einer weitgehend etablierten Fachsprache wiedererkennen lässt. All das klärt jedoch noch nicht wirklich die Frage, was Permakultur denn eigentlich ist und macht. James R. Veteto und Joshua Lockyer, zwei Umweltanthropologen, die sich intensiv mit diesem und angrenzenden Themen beschäftigt haben, bieten eine etwas umgänglichere Erklärung, als die obige: Permakultur sehe Menschen und menschliche Kreationen wie Handlungen als Teil der natürlichen Umwelt und betone die Verbindungen zwischen denselben. Sie ziele auf bewusst gestaltete Landschaften ab, in denen natürliche Strukturen nachgeahmt werden, um eine nachhaltige Symbiose zwischen den Bedürfnissen des Menschen und seiner Beziehung zur Natur zu erzeugen. Vielleicht verdeutlicht diese Definition am besten das Problem, dem ich mich gegenübersah, als ich “Permakultur” in einfachen Worten umreißen zu suchte. Diese, sehr typische, Erklärung von Veteto und Lockyer greift präzise die wichtigsten Komponenten und Ziele von Permakulturarbeit auf – und kann dennoch nicht beschreiben, wie diese Arbeit im Endeffekt aussieht. Fragen wie “Wie geht Permakultur eigentlich?”, oder “Und was machst du dann dort genau?” konnten somit bei mir nur auf eine Wand von Verwirrung und Ziellosigkeit stoßen. Der Besuch eines ländlicheren Klienten von AES half nun sehr, diese Fragen zumindest ansatzweise zu klären und einen etwas traditionelleren Einblick in die Arbeit von Permakulturisten zu erhalten: Das Grundstück, das Gegenstand des Besuches war, ist an eine Paragliding-Schule inmitten der Hügel- und Schluchtenlandschaft zwischen Mumbai und Pune angeschlossen. Besucher können hier mehrere Tage verbringen, an Kursen teilnehmen, Paragliding praktisch umsetzen, und die vielfältige Landschaft genießen. “Resort” ist wohl der beste Begriff für die Mischung aus Hostel, Trainingsplatz und Farm, die uns dort erwartete. Wir selbst blieben zwei Tage, in denen wir im strömenden Monsunregen die Felder abgingen, Skizzen und Pläne anfertigten, und uns bei Chai und Dhal die nassen Füße wieder zu trocknen suchten. Außenstehende hätten die Arbeit, die AES in dieser Zeit leistete, wahrscheinlich leicht für simples Außendesign halten können. Tatsächlich glich das fertiggestellte Produkt einer bloßen Ansammlung von Blaupausen für die Bepflanzung der Beete und dem Umbau der Gartenanlagen. Die Besonderheiten, die die Anwendung von Permakulturprinzipien verrieten, zeigten sich in dem, was während dieser Aktivitäten ge- und besprochen wurde. Zunächst wurde schnell deutlich, dass die Gestaltung des Grundstücks keine kurzfristige Angelegenheit darstellte. Im Gegenteil wurden teilweise sogar 5- und 10-Jahres-Pläne aufgestellt; eine überraschend weitreichende Planung für einen Bereich, der im Grunde lediglich als ein vergrößerter Garten hätte bezeichnet werden können. Eine weitere, wirklich erstaunliche Erkenntnis wurde das immense Detailwissen über Pflanzenarten, Anbauweisen und praktische Erfahrungswerte, das die Mitarbeiter von AES in die Konzeptualisierung des Grundstücks einbrachten. Als in diesen Bereichen viel zu unbewanderter Städtling, fühlte ich mich plötzlich, als sei ich ein Grundschüler auf Exkursion, anstatt studierender Praktikant in dieser Organisation. Schlussendlich war jedoch auch besonders auffällig, wie über die Pläne einer nachhaltigen Gestaltung gesprochen wurde, also die Wortwahl, die AES in diesen Fragen anwand. Gerade Gestaltung, mit fast schon künstlerischem Einschlag, schien das Zentrum der Gedanken zu sein, und Design der Kern aller Bemühungen. Daneben ließ sich aber auch ein dialektisches Verhältnis von menschlichen und natürlichen Elementen feststellen, denn es wurde immer darüber nachgedacht, wo Wege angelegt, Sitzbänke aufgestellt, und Unterstände errichtet werden könnten, im nächsten Satz jedoch wieder deutlich die Priorität natürlicher Bedingungen und Bedürfnisse betont. Sätze wie “Lass dir vom Land zeigen, was du dort machen kannst.” oder “Die Natur macht hier ihr eigenes Ding und das ist auch gut so.” klangen zwar zunächst etwas esoterisch, drückten jedoch letztendlich einfach die Wichtigkeit aus, die der naturgeleiteten Entwicklung dieses Gestaltungsprozesses zuzukommen scheint. Nach dem Besuch dieses Grundstückes nahm ich meine Ausgabe von Vetetos und Lockyers Environmental Anthropology Engaging Ecotopia mal wieder in die Hand und war überrascht, an wie vielen Stellen ich Elemente von Permakultur hervorgehoben fand, die … Read morePermakultur – Eins

Der Krieg ist vorbei.

Ich denke, dass es Menschen gibt, die an Kulturschocks glauben, und solche, die es nicht tun. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass ich gerne einer von der Sorte wäre, der über dieses Konzept genauso laut lacht, wie ein stocksteifer Atheist über Gott. Erfahrung belehrt mich jedoch leider eines Besseren und heute weiß ich, dass es wohl einfach Kulturschocks in meinem Leben geben muss. Die Beweislage hierfür ist schlichtweg zu belastend. Doch ich bin endlich angekommen. Als ich heute das erste Mal meinen Gasherd zum Laufen bekommen und eine Tasse Tee gekocht habe, habe ich gleichzeitig endlich das Ende des Ausnahmezustands und den Einzug von ein wenig Eingelebten-Komfort zelebriert. Ich kenne mich grob in meiner Nachbarschaft aus, weiß, wenn der Riksha-Fahrer absichtlich eine längere Route fährt, besuche zielsicher einen bestimmten Lebensmittelladen vor meinem Haus und habe einige Fächer meines völlig verstaubten Kleiderschranks endlich auf einen benutzbaren Standard gebracht. Ich esse sogar lokale Speise einigermaßen angstfrei, obwohl ich einen Imbiss, der direkt vor meinem Wohnkomplex sogenannte “Frankies” verkauft, bislang immer noch nicht angerührt habe. Ich habe keine Ahnung, was genau ein “Frankie” ist – wohl eine Art Wrap, den Bildern nach zu urteilen – aber der bloße Name, gepaart mit dem leicht angesäuerten Aussehen des Geschäftes, erzeugt in mir einen instinktiven, tiefen Respekt vor der Erfahrung, die ein Besuch dort wohl bedeuten könnte. Abgesehen davon freunde ich mich sogar mit dem arythmischen Alltag an, in den Sukriti und Chandan mich mit hineinziehen. Jeder Tag ist ein Ausflug und ein wenig ein Abenteuer, und obwohl die beiden Mitarbeiter von AES mir zusichern, dass es in ein-zwei Wochen bald besser werden soll, bin ich mir mittlerweile ziemlich sicher, dass es nie einen komplett regulären Alltag geben wird. Noch etwas hat sich verändert, denn Ganapati, die Hindu-Feiertage zu Ehren Ganeshas, sind endlich vorüber. Das bedeutet: kein lautes nächtliches Getrommel mehr, etwas weniger verstopfte Straßen und wieder regulär geöffnete Geschäfte und Büros! Anam bemitleidete mich mehr als einmal zurecht dafür, direkt nach meiner Ankunft in Indien in ein solches Spektakel geworfen zu werden, das selbst eingefleischten Indern schnell auf die Nerven gehen kann. Doch auch das ist jetzt Geschichte und obwohl ein Teil von mir sehr bedauert, mental noch nicht anwesend genug gewesen zu sein, um alles von diesem besonderen Fest mitzubekommen, ist ein anderer Teil von mir ganz froh und neugierig darauf, was ein alltägliches Mumbai eventuell noch an Mehrwert zu bieten hat. [Für alle, die es interessiert, gibt es hier übrigens einen ausführlicheren, englischen Artikel zu Ganapati] Die neu gewonnene Komfortzone bietet endlich auch die Möglichkeit, über mittelfristige Pläne und Ziele nachzudenken, darüber, was ich noch erledigen, erleben und genießen möchte. Mit mir im Gepäck trage ich immer noch stets die Hausarbeit über “Die religiöse Bedeutung von Bäumen”, die immer spannender wird, je mehr Leute ich in Diskussionen darüber verwickele. Ich plane eine Bachelorarbeit über Ökodörfer, für die die Feldforschung vorbereitet werden will, und nebenher fange ich noch an, Blogeinträge und Medien für AES zu gestalten. Privat zieht es mich momentan in den Norden des Landes, um dort ein bisschen mehr kischeehaftes Indien erleben und urbane Überraschungen hinter mir lassen zu können, doch das wird vermutlich noch einige Wochen hinten angestellt werden müssen. Nichtsdestotrotz können auch diese Dinge ja ebenfalls bereits beachtet und geplant werden… vielleicht bin ich ja doch noch nicht ganz in der asiatischen Spontanität angekommen. Doch eine Sache, die bald unweigerlich auf mich zukommen wird, ist ein bestimmtes Maß an Sinnfindung für die Zeit mit AES. Momentan bin ich noch ein Besucher, ein Gast von Sukriti und Chandan, der sich an alle Bewegungen der beiden klettet ohne selbst besonders viel ausrichten zu können. Das geht so weit, dass ich mich bemerkenswert schlecht fühle, wenn ich von AES als ein “wir” rede – trage ich doch momentan herzlich wenig zum Bestand oder Fortschritt dieser Organisation bei. Das wird sich noch zwangsweise ändern, in die eine oder andere Richtung. Ich kann mir sogar gut vorstellen, schließlich teilweise eine Rolle einzunehmen, in der ich, unabhängig von den tagtäglichen Aktivitäten der Organisation, auch eine eigene Form von Aktivismus praktizieren kann. Wie genau das aussehen soll, muss noch erarbeitet werden. Eingebungen und kreative Ideen werden übrigens immer gerne entgegengenommen! Ein Blick auf die kommenden Tage verrät mir noch mehr Ausnahmesituationen am Horizont! Morgen geht’s mit dem Bus ins Grüne und nächste Woche steht ein spannendes Meeting an. Ich habe also meinen Normalzustand umständehalber und für längere Zeit abzugeben.  

Ganesha, der olle Elephant

Ich denke, es ist nur fair und gerecht, der ersten Woche in einem fremden Land ein gewisses Maß an Verrücktheit zuzugestehen. Das gehört einfach dazu. Unerwartet überwältigend finde ich allerdings die Ambivalenz, mit der ich auf diese ersten Erfahrungen zurückblicke. Während ich hier neben Wassermelonensaft und Palmwedel auf der einen, und Straßenlärm und -Gestank  auf der anderen Seite meines Café-Tisches sitze, fällt es mir schwer, mich für eine Wertung der letzten Tage in die eine oder andere Richtung zu entscheiden. Vielleicht verschafft die Kurzfassung der kürzlichen Erlebnisse ein wenig Klarheit. In den ersten Stunden der Woche war ich endlich und einigermaßen vollständig in diesen neuen Lebensraum geboren: Ich hatte alle mietverwandten Schulden beglichen, nach tagelangen Anstrengungen endlich WLAN und eine SIM Karte gefunden, mich mit meinen Kollegen und den essentiellsten Notfall-Kontakten vor Ort kurzgeschlossen, und sogar Küchenvorräte auf ein überlebensfähiges Minimum gebracht. Endlich ‘angekommen’, war ich gleichermaßen erschöpft von den anstrengenden Formalitäten der Vortage und gespannt auf das, was noch kommen sollte. Am Folgetag finde ich mich zur unchristlichen Stunde Siebeneinhalb in einem geräumigen Kombi wieder, staune über die an mir vorbeiziehenden Bezirke Mumbais und über die Menschen, die mit mir im sprichwörtlichen Boot sitzen. Chandan ist einer der beiden aktuell festen Mitarbeiter der AES (Academy of Earth Sustainablity). Seine Kollegin – Sukriti – muss an einem anderen Ort ihre Präsenz beweisen und ist nicht unter den anwesenden Kombatanten. Neil ist Chandans jüngerer Bruder. Eigentlich ist Neil Pharmazeutiker, sucht aber im Moment nach neuen Arbeitsmöglichkeiten und hilft Chandan und Sukriti ab und an bei ihrer Arbeit. Anam ist im Grunde genommen meine Vorgängerin. Sie ist eine junge, aber bereits studierte und geübte Immobilienmaklerin, die nach einem beruflichen Perspektivenwechsel strebt und die letzten vier Wochen AES bei ihren Projekten begleitete. Heute ist ihr letzter Arbeitstag. Wir verlassen die äußeren Stadtteile und immer mehr Grün durchwächst die ländlicher werdende Landschaft. Die meisten Häuser der vorbeiziehenden Siedlungen haben nur noch ein paar wenige Geschosse, und einzelne Blechhütten säumen die Straße oder akzentuieren die sonst naturbelassene Landschaft. Wir biegen schließlich von der geteerten Straße auf einen ungepflegten Landweg ab und verlangsamen auf Schritttempo, während das ganze Auto mitsamt Insassen ordentlich durchgeschüttelt wird. Erst nach weiteren zehn Minuten haben wir unser Ziel erreicht. Die Projektstelle heißt VOICE Sanjivani und ist ein Heim für soziale oder tatsächliche Waisenmädchen von bis zu 18 Jahren. Etwa vierzig Mädchen leben hier in einem kleinen, abgeschlossenen Wohnkomplex und bewältigen gemeinsam einen autonomen Alltag. Außer ihnen leben nur noch 3-4 Erwachsene permanent auf dem Gelände. Die Mädchen bekommen eine Ersatzbildung, die im Idealfall zur allgemeinen Reife genügt, schmeißen eigenständig den Haushalt und erhalten Zusatzangebote zur Horizonterweiterung. So zumindest die Theorie.. AES stellt eines dieser Zusatzangebote, indem die Mitarbeiter versuchen, ökologische Bildung sowohl theoretisch, als auch praktisch zu implementieren. In letzter Instanz sollen die Mädchen selbst zu Experten nachhaltigen Lebens werden und eine vermittelnde Position einnehmen können. Wir werden von lautem Hundegebell und einigen Mädchen am Tor begrüßt. Viele tragen eine Art Uniform in verschiedenen Ausgestaltungen, einige wenige einen eigenen Sari. Anam wird sofort von einem jungen Mädchen an die Hand genommen und über den Hof geführt. Ich selber werde noch etwas unsicher beäugt, beäuge im Gegenzug auch ein wenig und lächele so häufig ich kann. Gemeinsam ziehen wir in einen kleinen Klassenraum ein, in dem der theoretische Teil der heutigen Einheit angegangen werden soll. Ein paar Stunden später stehen wir schon mit einem knappen Dutzend der Mädchen auf der Wiese ihres Gartens und werkeln gemeinsam an einem Kompostierbereich. Die anfängliche distance zwischen den Mädchen und mir ist wie verflogen, zumindest seit Anam verkündet hat, ich sei nun bereit für meine erste Hindi-Unterrichtseinheit. Seitdem kennen die Mädchen kein Halten mehr und ich werde von allen Seiten mit Phrasen, Fragen und Zahlenreihen bombardiert, die ich wie ein Schaf nachblöke und mir dabei fieberhaft zu merken versuche, sehr zur Belustigung der umstehenden Jugendlichen. Am Ende des Tages haben wir etwa sechs Stunden auf dem Gelände von VOICE und praktisch alle der vielen bruzelnd heißen Sonnenstunden unterwegs verbracht. Geschafft fahren wir wieder zurück in die Stadt und nehmen noch ein schnelles Abendessen an einer der Landstraßen-Raststätten ein, bevor wir uns an jeweils unterschiedlichen Stellen verabschieden. Willkommen im Alltag! AES bezieht seine finanziellen Mittel vor allem aus dem Angebot von Kursen an Schulen und anderen Einrichtungen, sowie von einigen wenigen Förderern. Diese Mittel, beziehungsweise die verbleibende freie Zeit, die diese erkaufen, fließen dann in eigenständig angetriebene Projekte mit einer gleichen Ausrichtung. Das VOICE-Waisenheim stellt zurzeit das Hauptprojekt für AES dar und könnte idealerweise mittelfristig eigene Früchte für die Organisation tragen. Nächste Woche findet so zum Beispiel ein Projekttag der hiesigen American School statt. Die Schülerinnen und Schüler dieser Schule werden mit auf das Gelände von VOICE kommen und dort mit den Mädchen zusammen an praktischen Umsetzungen nachhaltiger Ideen arbeiten. Ziel ist es, wie schon oben angedeutet, dass die Mädchen von VOICE hier bald selbst eine vermittelnde Rolle einnehmen und selbst zu Akteuren in der Nachhaltigkeitsarbeit werden. Wir sind letzte Woche noch ein zweites, Chandan und Sukriti sogar noch ein drittes und viertes Mal an die Einsatzstelle gefahren, um einige Vorbereitungen für die kommende Woche und die Kids der American School zu treffen. Sukriti, die dieses zweite Mal auch mit dabei war, hat eine besonders globale Vita. In Hong Kong geboren und aufgewachsen, zog sie erst kurz vor dem Abschluss für ein paar Jahre nach Indien, um dann aber 5 Jahre in den USA zu leben und zu studieren. Erst danach zog sie wieder zu ihren Eltern nach Mumbai, um dort schließlich AES zu gründen. Das war vor zwei Jahren. Die Organisation konzentrierte sich unter wechselnder Besetzung zunächst auf ländliche Bildungsarbeit für Erwachsene, wechselte dann aber in einen urbaneren und jüngeren Rahmen, den Sukriti und ihre Kollegen für vielversprechender halten. Bis heute scheint alles sehr experimentell und selbst VOICE könnte man noch nicht als vollständig etabliert bezeichnen. Jeder kann und macht hier fast alles. Eines jedoch scheinen die Mitarbeiter und Helfer von AES alle gemein zu haben: Sie sind super aufgeschlossene, offenherzige und global denkende Menschen … Read moreGanesha, der olle Elephant

Erste Male 

Honeymoon-Phase. So wird die erste Zeit in einem fremden Land manchmal genannt. Weil alles zuerst rosiger erscheint, jede neue Entdeckung spannend und toll! Das ist auch gut so, ansonsten würde man diese ersten Tage vermutlich emotional gar nicht erst überleben. Und das trifft meine ersten paar zig Stunden hier eigentlich ziemlich auf den Kopf. Ich wohne in Bandra, einem für seinen prozentualen Expats-Gehalt berüchtigten Stadtteil Mumbais. Bandra liegt im Westen der Stadt und sein westlichster Streifen direkt am Meer. Über einen großen Hügel, genannt Pali Hill” drängen sich Hochhausbauten portugiesischen Stils (zumindest hat man mir versichert, es sei portugiesisch), fast ebenso hohe rankenumwachsene Bäume und Palmen. Dazwischen findet man kleine einstöckige und enge Imbisse, Einkaufsläden und Cafés, schmale schattige Gassen und wendige, um die Ecken brausende Rikschas. Die terrassenförmige Hügellandschaft könnte auf einer kleinen karibischen Insel stehen und die von Sitzgelegenheiten gesäumte Promenade Venice Beach in Kalifornieren zieren. Der Haken: Hügel und Promenade stehen in einem nur mäßig wohlhabenden Teil einer indischen Wirtschaftsmetropole, nicht im reichen Kalifornien und auch nicht in der touristischen Karibik; und das Gesicht dieser süßen Verheißungen verzerrt sich: Die schmalen Gassen sind müllüberladen, genauso wie der Felsen-“Strand” jenseits der Promenade und das Meer dahinter,  Alte und Kinder betteln auf den Straßen, magere Hunde und Katzen streifen wild und suizidal durch die Gegend, und der Verkehr in den bewohnten Teilen unterscheidet sich nur marginal von dem auf der überfüllten Ringstraße um den Bezirk. Doch alles was das heißt, ist, dass Bandra nach wie vor Indien ist, und ich bin eigentlich ziemlich dankbar, hier untergebracht zu sein. Den “Expatcharakter” bemerke ich als Neuling praktisch gar nicht, die Gegend ist abends vergleichsweise ruhig, es gibt ein paar gute Essensgelegenheiten um die Ecke, und eine Promenade ist immer noch besser als keine Promenade! Es ist der sanfte Einstieg in diese Metropole, deren schiere Größe ich bislang immer noch nicht begriffen habe. Hier also erlebe ich meine indischen Ersten Male: Die erste 30° heiße Nacht, das erste Straßenessen und die Furcht um die Folgen, die erste hüftgroße Fledermaus am Abendhimmel, die erste unbekannte Frucht, die erste kleine Echse in der Küche, die ersten Sprachbarrieren mit dem Hausverwalter und den Sicherheitskräften, die erste, nicht ganz so kleine Kakerlake in der Küche, die ersten 3 Tage ohne Internet und Handynetz. Wie gut, dass es die Honeymoon-Phase gibt!

Instinkte eines Pfarrerssohn

Ich habe diese Tendenz, egal wohin ich komme, beinahe immer und sehr schnell auf irgendeine Form christlicher Phänomene zu stoßen. Vielleicht macht das die Übung aus zahlreichen Italienurlauben, deren Ziele aus schleierhaften Gründen immer auch eine oder mehrere Kirchen enthielten. Vielleicht ist diese Eigenartigkeit aber auch genetisch veranlagt: als zweifacher Pfarrerssohn liegt es mir eventuell einfach im Blut, instinktiv auf die nächstbeste Kirche zuzusteuern. Mein innerer, christlich veranlagter Kompass, wenn man so will. Sei es, wie es ist: Kirchen und Gottesdienste in fremden Kontexten sind womöglich sehr passende Exemplare für die Faszination, die ich Interkulturalität und Fremdheit im Allgemeinen entgegenbringe. Sie sind nämlich vergleichsweise offensichtliche Träger jenes faszinierenden Paradoxons, das kulturell andersartige Orte umgibt. Auf den in christlichen Kontexten aufgewachsenen Beobachter wirken sie sowohl überraschend vertraut, als auch unerwartet befremdlich. Vertraut deswegen, weil es ein faktisch übergreifendes Phänomen darstellt, das man aus der Heimat kennt und an vielen anderen Orten der Welt wiederfinden wird. Befremdlich dagegen, weil es phänomenologisch völlig anders auftritt, als die gewohnte Situation aus dem heimatlichen Kontext. Im Falle des Gottesdienstes fallen zum Beispiel und vor allem sprachlich andersartig gestaltete Elemente ins Auge (bzw ins Ohr): Die Liturgie des jeweiligen religiösen Kontextes entblößt ihre Andersartigkeit nicht nur durch eine völlig andere Sprache. Sondern mindestens genauso sehr durch die bestimmte Wortwahl, deren Elemente Träger der religiösen Botschaft sind. Diese berührt den fremden Beobachter in diesem Beispiel am tiefsten, ist doch gerade die in der Liturgie verankerte Rhetorik das Element, das dem Religiösen zu einem großen Teil seinen ritualistischen Charakter und damit dem Teilnehmer die Vertrautheit verleiht. [stag_video src=”https://youtu.be/be9aPnMlTts”] In der Erfahrung des Fremden wird diese Vertrautheit nun insofern betrogen, als dass sich das, was wir in nurmehr einer Form kennen und wertschätzen, in völlig anderer Gestalt auftritt. Die meisten Menschen unserer neuen Umgebung werden jedoch an diesen für uns veränderten Formen sicher und enthusiastisch partizipieren. Genau das ist das Moment, in dem Fremdheit wahrgenommen wird. Denn wären wir alle diesen Situationen fremd, dann wären wir zumindest zwischenmenschlich nicht mehr verschieden und damit auch nicht derartig “fremd” zueinander. Ich möchte das noch ein wenig auf die Spitze treiben. Und zwar behaupte ich, dass die Intensität des Fremdheitsgefühls mit der der ursprünglichen Vertrautheit zu einer Situation direkt zusammenhängt: Je ritualisierter, persönlicher, und emotional verbundener eine Situation aus dem bisherigen Alltag, desto tiefgreifender die Fremdheitserfahrung in anderen kulturellen Kontexten. Anders gesagt: Das völlig unbekannte Dhal ist höchstens aufregend; die überhaupt nicht als solche identifizierbare Pizza hingegen schockiert mich zutiefst! Ich wende mich in derartigen Fremdheitssituationen gerne ganz bewusst den Gemeinsamkeiten zu, die mich fremd anfühlenden Menschen wieder näher bringen. Interessanterweise finden sich diese, meiner Beobachtung nach, sehr häufig in Symbolen wieder, die interkulturelle, häufig sogar weltweite Bedeutungssymmetrien haben. Im Fall der Kirche sind die Symbole bekannt: Kirchenschiff, Gemeinde und Predigender, Gekreuzigter Christus. Zwischenmenschlich kann das ein Fingerzeig sein, eine leichte Berührung, ein Lächeln. Interkulturelle Dekodierung, leicht gemacht!

Wellen des Windes

Eigentlich wollte ich doch gar nicht nach Indien. Wenigstens nicht unbedingt. Aber so ist das eben, wenn man sich alle Optionen offen hält: Die Gefahr steigt, dass etwas unerwartetes daherkommt und plötzlich einen nicht unwesentlichen Teil des eigenen Lebens bestimmen wird. Ganz ehrlich? Genau danach habe ich aber gesucht. Wie langweilig wäre es geworden, auf eine Reise zu gehen, auf die ich perfekt vorbereitet bin! So beginnt es also. Irgendetwas, von dem ich keine Ahnung habe, was es ist und wie es wird. Alles, was meine Nerven beruhigen kann, ist die Gewissheit, dass es mein Leben in irgendeiner Weise mal wieder sehr nachhaltig verändern wird. Klar, ich habe mir schon einige Prophezeiungen geben lassen: Kulturschock, Diarrhoe, Korruption, Armut, Heimweh, Chaos, Malaria und Bollywood. Und nur auf etwa die Hälfte davon freue ich mich. Eigentlich bin ich ja auch dagegen, mir das Unerwartete von irgendwelchen Vorgängern und Weltenbummlern vorsagen zu lassen. Aber eine Youtuberin (GRRRLTRAVELER) hat es trotzdem geschafft, mir Laune auf die Erfahrung Indien zu machen: Ihre Zeit dort sei, so sagt sie, wie eine Achterbahnfahrt gewesen. Es gehe steil auf- und abwärts auf unberechenbaren Gleisen, und am Ende wolle man noch einmal fahren. Klingt genau richtig! Ich kann mich aber tatsächlich auf vieles freuen: Eine potentiell grandiose Praktikumsstelle [AES], 360° Exotik und wahrscheinlich Essen, das gelegentliche Magenverstimmungen um ein Vielfaches wert ist! Besonders freue ich mich aber auf das Ich, das in rund 6 Monaten zurückkehrt; ich sag von hieraus schonmal einen Gruß! Jetzt alle Segel in den Wind! Wer zuerst zurückschaut, hat verloren!