One Night in Bangkok

Ich muss an das anscheinend „Weltberühmte Thai-Lächeln“ denken, das auf einer der Werbetafeln auf meinem Weg hierher propagiert wurde. Die junge Frau an der Rezeption meines Hostels lächelt mir tatsächlich so breit und herzlich entgegen wie es zuvor nur der Verkäufer im Mobilfunkladen und die ältere Frau, die mir zeigte wie man den Fahrkartenautomaten benutzt, getan haben. Das ist ein sehr anderer Empfang verglichen mit meinen ersten Tagen in Mumbai. Mein Hoch hält also an.  Ich wippe fröhlich auf den Fußballen während mir die Frau, die wohl auf den Namen Mai hört, nun die Schlüsselkarte überreicht und den Weg zu meinem Zimmer erklärt. Ich bin zwar erst etwa drei Stunden im Land, aber bis jetzt scheint Thailand eine großartige Idee gewesen zu sein, um vor meiner Rückkehr nach Deutschland nochmal ein bisschen andere Luft zu schnuppern und mein System für das kommende Semester neu zu starten. Letztendlich waren die Aussicht auf pulsierendes Stadtleben, weiße Strände und einen weiteren süßen Kulturschock sehr überzeugend gewesen. Und anscheinend werde ich nicht enttäuscht. Ich habe noch keinen Strand gesehen, aber Bangkok pulsiert, ist sauber und so urban-modern wie nur möglich, und ich verstehe bisher wohl auch nur sehr wenig von dem, was Menschen hier sagen und tun. Ich scheine sogar noch ein wenig mehr Kultur zu bekommen, als zunächst erwartet: Über vielen Läden prangen neben dem Thai-Alphabet japanische Zeichen und auf einem der Plazas auf meinem Weg wurde das chinesische Neujahr gefeiert. Alles, was das Stadtkind-Herz erfreut! Eine halbe Stunde später bin ich geduscht und einigermaßen angekommen und checke meine Emails in der Lobby. Es ist schon zehn Uhr am späten Abend und ich habe mich entschieden, nicht noch größere Unternehmungen anzustreben. Die berühmt-berüchtigte Nacht in Bangkok muss nicht gleich am ersten Abend im Land erprobt werden. Da tippt mir jemand auf die Schulter. Es ist Mai, die Rezeptionistin. „Hey, me and my friends wanna go out later. Would you like to join?“ „Whereto?“, frage ich. „Dunno. Drinking, Partying.“ Ich denke einen Moment nach und versuche meine emotionale Kompatibilität mit dieser Idee zu ergründen. Doch ich bin immer noch im Modus Honeymoon, also nicke ich schließlich und danke Mai für die Einladung, während ich versuche, ebenso breit wie sie zu lächeln. Es dauert nicht lange und wir sitzen in einem Taxi zu einem Ort, der Khao San Road heißt. Wir sind zu fünft. Som ist eine Kollegin von Mai, Ed ist Finne und Mais fester Freund, Jack ist Schotte und schon seit fünf am Mittag betrunken. Die Stimmung ist ausgelassen. Mai und Ed lachen über einen gemeinsamen Scherz, Jack köpft das nächste Bier und Som fragt mir ehrlich interessiert Löcher in den Bauch. Khao San Road ist tatsächlich eine Straße. Und sie ist überfüllt mit ausgelassen tanzenden und trinkenden Menschen. Die Luft bebt von den sich überschneiden Bässen zahlloser Bars und Clubs, die alle ihre Lautsprecher auf die Straße gerichtet haben. Kleine Stände am Straßenrand verkaufen Essen, Bier und „Buckets“ – kleine Eimerchen, aus denen der gewünschte, unschön starke Alkohol-Softdrink Mix mittels Strohhalm und gemeinschaftlich getrunken wird. Zwischen den Feiernden wuseln weitere Händler und preisen karamellisierte Skorpione, Lachgas-Ballons und fragwürdige Dienstleistungen an. Wir wandern im Gänsemarsch zwischen den Mengen herum bis wir einen Platz auf der Straße mit der richtigen Musik und passender Stimmung gefunden haben. Ed verschwindet zwischen den Massen und taucht wenig später wieder mit drei Buckets auf. Jack hat sein Bier bereits geleert und nimmt sich fröhlich einem der gereichen Getränke an. Dann tanzen wir. Jack am ausgelassensten und mit jedem, Ed am verhaltensten und nur mit Mai. Som tanzt eng neben mir und lacht über Jacks Bewegungen. Ich fange freundliche Blicke von den Tanzenden um mich herum auf, teile Drinks und später Essen, als ich mir eine Portion Pad Thai auf die Tanzfläche hole, genieße das Gedränge um mich herum und winke Lachgas- und Skorpion-Verkäufern lächelnd ab. Die Musik ist gut und wird besser, als Gustavo Lima gespielt wird und besonders alle Ausländer – inklusive mir – noch viel ausgelassener feiern und mitsingen. Die Grenzen zwischen den tanzenden Gruppen verschwimmen und ich tanze mit allen und niemandem bestimmtes. Urplötzlich schlägt die Stimmung um und ein hektisches Gedränge setzt ein. Eine runde, freie Fläche entsteht auf der eben noch gleichmäßig gefüllten Straße, ein Kreis aus dem jeder ängstlich fortzukommen versucht. In der Mitte nur ein bulliger Thai und eine junge Frau, die aufeinander losgehen. Ein paar andere Mädchen versuchen die Frau vom Mann wegzuziehen, während dieser ihr provokativ Worte entgegenschleudert. Die Tanzmusik erstirbt. Die Frau hat Tränen in den Augen, ihr Gesicht vor Wut verzerrt, und drängt gegen den Griff ihrer Freundinnen in Richtung des Mannes an. Ich spüre wie Som sich hinter mich schiebt und sehe, dass auch Ed sich neben mir mit finsterer Miene vor Mai gestellt hat. Mit einem Ruck überwindet die Frau die schwache Sperre der Mädchen und stürzt sich auf den Mann. In der Hand hat sie eine Flasche. Und plötzlich steht Jack zwischen den Beiden. Das Gesicht des Schotten ist todernst und die Augen auf die heranstürmende Frau gerichtet. Er packt ihre mit der Flasche erhobene Hand und mit der anderen ihre Schulter. Die Frau windet sich in seinem Griff, doch er drängt sie zurück in Richtung ihrer Freundinnen. Seine Lippen formen beruhigende Worte, die niemand hören kann. Ein paar bislang unbeteiligt nebendran stehende Männer erwachen jetzt aus ihrer Starre und nehmen sich in gleicher Manier des bulligen Mannes an, der noch immer zetert und schimpft. Jack hat mittlerweile einen Arm um die Schulter der Frau gelegt und nimmt sie mit sich und den Freundinnen fort. Sie nickt mit hängendem Kopf zu was auch immer er ihr ins Ohr spricht. Der Kreis schließt sich langsam und die Menge entspannt sich ein wenig, als auch der Mann von seinen Freunden wegbugsiert wird, etwas lauter protestierend. Menschen schauen sich erleichtert in die Augen und tauschen Gedanken über das eben geschehene aus. Leise setzt die Musik wieder ein. Ein paar versuchen, ihre unsicheren Glieder wieder zum Rhythmus zu bewegen. Da ist Jack wie aus dem Nichts wieder … Read moreOne Night in Bangkok

Landflucht

Ich verbrachte zehn Tage in einem Ökodorf-Projekt im mittleren Süden Indiens, in der Nähe von Bangalore. ProtoVillage, so heißt die Gemeinschaft, gründet sich auf der Idee, dass es für sozialen Wandel ein Vorzeigemodell geben muss, das in all seinen einzelnen Bestandteilen, Strukturen und Technologien als Referenz für weitere Projekte herangezogen werden kann. Momentan befindet sich ProtoVillage jedoch noch mitten in der Aufbauphase und die etwa fünfzehn Mitglieder leben, essen und schlafen alle gemeinsam unter einem Dach. Ich war nun die letzten Tage das sechzehnten Rad am Wagen, um im Rahmen einer Feldforschung herauszufinden, nach welchem sprichwörtlichen Schatz in dieser bewusst zusammenlebenden Gemeinschaft gegraben wird. Mindestens genauso angestrengt habe ich jedoch auch in mir selbst gegraben, um eine erste Ahnung zu entwickeln, wie sehr mir die Idee einer ökologisch (und anderweitig) bewussten Gemeinschaft persönlich bekommt – denn auch die Wahl meines Forschungsortes fiel wohl nicht ganz ohne das eine oder andere versteckte, subjektive Interesse an diesem Konzept. Für einen etwas ausführlicheren Einstieg in ProtoVillage und den Gründer Kalyan Akkipeddi, hier ein detaillierter Artikel. Dieser Logbucheintrag soll jedoch ein paar der ersten Reflektionen nach dieser Erfahrung festhalten. Erstens. Ein erstes Wow-Moment erlebte ich bereits weit vor meiner Ankunft, als ich mit Shobitha, der Frau Kalyans, Kontakt aufnahm, um die Konditionen und Verhältnisse eines möglichen Aufenthalts in ProtoVillage zu besprechen. Ich hatte ihre Nummer von meinem Kollegen und Freund Chandan erhalten und ihn auch gebeten, Shobitha vorzuwarnen, dass ich sie kontaktieren würde. Dennoch war ich sehr überrascht, als diese meine Anfrage völlig umwegs- und umstandslos absegnete und mir mitteilte, sie freue sich auf meine Ankunft. Ich habe lediglich einen Schlafsack mitzubringen, sollte ich denn einen besitzen; für die restliche Unterkunft und Verpflegung sei gesorgt. Und tatsächlich:In ProtoVillage angekommen wartete schon eine bezogene Matratze samt zusätzlicher Wolldecke auf mich und an jedem der folgenden Tage deckte sich der Tisch wie von selbst, weil in der Küche automatisch für mich mitgekocht wurde – und ich ließ dafür keinen Cent. Das soll jetzt nicht in Aufmunterung ausarten, sich ein Ticket nach Indien zu buchen und diese großzügige Gastfreundschaft bis über alle Grenzen auszureizen. Denn ProtoVillage baut momentan eigentlich noch bei weitem nicht genug an, um mich auf einer selbsterhaltenden Basis mit durchzufüttern – eigentlich ist nicht einmal für das knappe Dutzend dauerhaft anwesender Mitglieder genug auf den Feldern. Dennoch geben Kalyan und Shobitha weiterhin ohne mit der Wimper zu zucken Geld für jeden gerade auftauchenden Gast aus, von denen ich nur der jüngste in einer langen Reihe bin. Der erste Teil der Erklärung hierfür ist logisch: Möchte sich eine Gemeinschaft als Vorzeigeprojekt portraitieren, muss sie jedem, vor allem aber ressourcenarmen Besuchern bedingungslos offenstehen. ProtoVillage trägt das aber noch weiter auf eine idealistische Ebene: In ihren eigenen Worten ist ProtoVillage wie dasjenige Haus einer Dorfgemeinschaft, das immer Unterkunft und Essen bereit hat, für jeden, der oder die da kommen mag. Diese unbedingte Barrierefreiheit ist an sich schon unglaublich großartig und wahrscheinlich ein Standard, den nur wenige vergleichbare Projekte zu erfüllen fähig oder bereit sind. Doch das ist nicht alles. Zweitens. Dieser unbedingten Toleranz gesellt sich in ProtoVillage eine scheinbar ebenfalls unbedingte Toleranz gegenüber jedes eigenen Tagesablaufes hinzu. Natürlich unterschreibt man als Besucher keinen Arbeitsvertrag und man hat auch keine formelle Übereinkunft darüber, wie viel man während seines Aufenthaltes für die Gemeinschaft zu leisten hat. Doch selbst auf informeller Ebene wird man weder ex- noch implizit dazu aufgefordert, ein bestimmtes tägliches Pensum oder derartiges zu erfüllen. Wieder in den Worten von Kalyan: Jeder leistet und tut das, wozu er oder sie Lust hat und worin seine oder ihre Passion besteht. Der Mehrwert für die Gemeinschaft entsteht automatisch. Ich selber habe diese Toleranz während meines Aufenthaltes wohl sehr gut auf die Probe gestellt, habe ich doch an, relativ betrachtet, nur sehr wenigen produktiven Tätigkeiten außerhalb meiner Feldforschung teilgenommen und darüber auch nur allzu bald ein schlechtes Gewissen entwickelt. Die Geduld und das offenkundige Vertrauen in meinen Wert für die Gemeinschaft blieb auf der Gegenseite dagegen unerschüttert. Dieses Verhalten ist für mich bis jetzt noch sehr schwer zu verstehen. Ich selbst stand schon auf beiden Seiten des Messers, das einen Nutzen eines Menschen für diese oder jene Gruppe herauszusticheln versuchte – seien es freizeitliche, Arbeits- oder Wohngemeinschaften: Irgendwo wird immer ein Defizit am Gegenüber für den Erfolg des Gruppenziels festgestellt, ausgedrückt und wahlweise konfrontiert oder frustriert ausgeschwiegen. Ich habe dieses Phänomen auch bislang als ein notwendiges Übel angenommen und versucht zu akzeptieren. Und hier ist nun diese Gemeinschaft, die von vornerein ein scheinbar so tiefes Vertrauen in meinen Wert hat, dass es diesen in zehn Tagen hauptsächlichen Ausschlafens, Notizenmachens, Recherchierens oder schlichtwegem Rumlümmelns kein einziges Mal hinterfragt. Wie das funktioniert, möchte ich gerne herausfinden. Drittens. Auf die Gefahr hin dass das jetzt wie das Hohelied klingen wird, eine weitere beeindruckende Beobachtung: Das Projekt geht voran. ProtoVillage hat wohl die schwierige Einstiegsphase, in der die meisten Ideen scheitern schon lange überwunden, ist aber gerade in sich selber noch lange nicht stabilisiert. Alle Teilnehmer leben auf engstem Raum unter einem Dach und die meisten nur mit dem Mund voller Reis und einem Versprechen an der Hand, dass irgendwann ein Haus nur für sie irgendwo dort stehen wird, wo momentan noch unbestelltes Land ist. Kombiniert mit der legeren Beschäftigungspolitik sollte man meinen, dass das Projekt binnen weniger Wochen zum Stillstands kommen sollte, doch das Gegenteil ist der Fall: Momentan wird an drei Baustellen gleichzeitig gebaut, der Küchengarten erweitert und nebenher noch ein Haushalt für über ein Dutzend Leute geschmissen. Auch das Verhalten untereinander ist schier tadellos respekt- und beizeiten geradezu liebevoll. Das ist umso erstaunlicher, als dass viele Teilnehmer aus völlig unterschiedlichen sozialen Welten stammen und ein Aufeinandertreffen eigentlich wenigstens ab und zu Reibungen verursachen müsste. Keiner der Menschen in ProtoVillage ist perfekt und selbst mir gelang es in meiner kurzen Zeit dort den einen oder anderen möglichen Konfliktpunkt zu erkennen. Einen ersten Hinweis, wie so etwas also klappen könnte, habe ich erneut einem Gespräch mit Kalyan entnommen: Um ein vollwertiges „Mitglied“ von ProtoVillage zu werden, muss man sechs Monate am Stück … Read moreLandflucht