Ganesha, der olle Elephant

Ich denke, es ist nur fair und gerecht, der ersten Woche in einem fremden Land ein gewisses Maß an Verrücktheit zuzugestehen. Das gehört einfach dazu. Unerwartet überwältigend finde ich allerdings die Ambivalenz, mit der ich auf diese ersten Erfahrungen zurückblicke. Während ich hier neben Wassermelonensaft und Palmwedel auf der einen, und Straßenlärm und -Gestank  auf der anderen Seite meines Café-Tisches sitze, fällt es mir schwer, mich für eine Wertung der letzten Tage in die eine oder andere Richtung zu entscheiden. Vielleicht verschafft die Kurzfassung der kürzlichen Erlebnisse ein wenig Klarheit. In den ersten Stunden der Woche war ich endlich und einigermaßen vollständig in diesen neuen Lebensraum geboren: Ich hatte alle mietverwandten Schulden beglichen, nach tagelangen Anstrengungen endlich WLAN und eine SIM Karte gefunden, mich mit meinen Kollegen und den essentiellsten Notfall-Kontakten vor Ort kurzgeschlossen, und sogar Küchenvorräte auf ein überlebensfähiges Minimum gebracht. Endlich ‚angekommen‘, war ich gleichermaßen erschöpft von den anstrengenden Formalitäten der Vortage und gespannt auf das, was noch kommen sollte. Am Folgetag finde ich mich zur unchristlichen Stunde Siebeneinhalb in einem geräumigen Kombi wieder, staune über die an mir vorbeiziehenden Bezirke Mumbais und über die Menschen, die mit mir im sprichwörtlichen Boot sitzen. Chandan ist einer der beiden aktuell festen Mitarbeiter der AES (Academy of Earth Sustainablity). Seine Kollegin – Sukriti – muss an einem anderen Ort ihre Präsenz beweisen und ist nicht unter den anwesenden Kombatanten. Neil ist Chandans jüngerer Bruder. Eigentlich ist Neil Pharmazeutiker, sucht aber im Moment nach neuen Arbeitsmöglichkeiten und hilft Chandan und Sukriti ab und an bei ihrer Arbeit. Anam ist im Grunde genommen meine Vorgängerin. Sie ist eine junge, aber bereits studierte und geübte Immobilienmaklerin, die nach einem beruflichen Perspektivenwechsel strebt und die letzten vier Wochen AES bei ihren Projekten begleitete. Heute ist ihr letzter Arbeitstag. Wir verlassen die äußeren Stadtteile und immer mehr Grün durchwächst die ländlicher werdende Landschaft. Die meisten Häuser der vorbeiziehenden Siedlungen haben nur noch ein paar wenige Geschosse, und einzelne Blechhütten säumen die Straße oder akzentuieren die sonst naturbelassene Landschaft. Wir biegen schließlich von der geteerten Straße auf einen ungepflegten Landweg ab und verlangsamen auf Schritttempo, während das ganze Auto mitsamt Insassen ordentlich durchgeschüttelt wird. Erst nach weiteren zehn Minuten haben wir unser Ziel erreicht. Die Projektstelle heißt VOICE Sanjivani und ist ein Heim für soziale oder tatsächliche Waisenmädchen von bis zu 18 Jahren. Etwa vierzig Mädchen leben hier in einem kleinen, abgeschlossenen Wohnkomplex und bewältigen gemeinsam einen autonomen Alltag. Außer ihnen leben nur noch 3-4 Erwachsene permanent auf dem Gelände. Die Mädchen bekommen eine Ersatzbildung, die im Idealfall zur allgemeinen Reife genügt, schmeißen eigenständig den Haushalt und erhalten Zusatzangebote zur Horizonterweiterung. So zumindest die Theorie.. AES stellt eines dieser Zusatzangebote, indem die Mitarbeiter versuchen, ökologische Bildung sowohl theoretisch, als auch praktisch zu implementieren. In letzter Instanz sollen die Mädchen selbst zu Experten nachhaltigen Lebens werden und eine vermittelnde Position einnehmen können. Wir werden von lautem Hundegebell und einigen Mädchen am Tor begrüßt. Viele tragen eine Art Uniform in verschiedenen Ausgestaltungen, einige wenige einen eigenen Sari. Anam wird sofort von einem jungen Mädchen an die Hand genommen und über den Hof geführt. Ich selber werde noch etwas unsicher beäugt, beäuge im Gegenzug auch ein wenig und lächele so häufig ich kann. Gemeinsam ziehen wir in einen kleinen Klassenraum ein, in dem der theoretische Teil der heutigen Einheit angegangen werden soll. Ein paar Stunden später stehen wir schon mit einem knappen Dutzend der Mädchen auf der Wiese ihres Gartens und werkeln gemeinsam an einem Kompostierbereich. Die anfängliche distance zwischen den Mädchen und mir ist wie verflogen, zumindest seit Anam verkündet hat, ich sei nun bereit für meine erste Hindi-Unterrichtseinheit. Seitdem kennen die Mädchen kein Halten mehr und ich werde von allen Seiten mit Phrasen, Fragen und Zahlenreihen bombardiert, die ich wie ein Schaf nachblöke und mir dabei fieberhaft zu merken versuche, sehr zur Belustigung der umstehenden Jugendlichen. Am Ende des Tages haben wir etwa sechs Stunden auf dem Gelände von VOICE und praktisch alle der vielen bruzelnd heißen Sonnenstunden unterwegs verbracht. Geschafft fahren wir wieder zurück in die Stadt und nehmen noch ein schnelles Abendessen an einer der Landstraßen-Raststätten ein, bevor wir uns an jeweils unterschiedlichen Stellen verabschieden. Willkommen im Alltag! AES bezieht seine finanziellen Mittel vor allem aus dem Angebot von Kursen an Schulen und anderen Einrichtungen, sowie von einigen wenigen Förderern. Diese Mittel, beziehungsweise die verbleibende freie Zeit, die diese erkaufen, fließen dann in eigenständig angetriebene Projekte mit einer gleichen Ausrichtung. Das VOICE-Waisenheim stellt zurzeit das Hauptprojekt für AES dar und könnte idealerweise mittelfristig eigene Früchte für die Organisation tragen. Nächste Woche findet so zum Beispiel ein Projekttag der hiesigen American School statt. Die Schülerinnen und Schüler dieser Schule werden mit auf das Gelände von VOICE kommen und dort mit den Mädchen zusammen an praktischen Umsetzungen nachhaltiger Ideen arbeiten. Ziel ist es, wie schon oben angedeutet, dass die Mädchen von VOICE hier bald selbst eine vermittelnde Rolle einnehmen und selbst zu Akteuren in der Nachhaltigkeitsarbeit werden. Wir sind letzte Woche noch ein zweites, Chandan und Sukriti sogar noch ein drittes und viertes Mal an die Einsatzstelle gefahren, um einige Vorbereitungen für die kommende Woche und die Kids der American School zu treffen. Sukriti, die dieses zweite Mal auch mit dabei war, hat eine besonders globale Vita. In Hong Kong geboren und aufgewachsen, zog sie erst kurz vor dem Abschluss für ein paar Jahre nach Indien, um dann aber 5 Jahre in den USA zu leben und zu studieren. Erst danach zog sie wieder zu ihren Eltern nach Mumbai, um dort schließlich AES zu gründen. Das war vor zwei Jahren. Die Organisation konzentrierte sich unter wechselnder Besetzung zunächst auf ländliche Bildungsarbeit für Erwachsene, wechselte dann aber in einen urbaneren und jüngeren Rahmen, den Sukriti und ihre Kollegen für vielversprechender halten. Bis heute scheint alles sehr experimentell und selbst VOICE könnte man noch nicht als vollständig etabliert bezeichnen. Jeder kann und macht hier fast alles. Eines jedoch scheinen die Mitarbeiter und Helfer von AES alle gemein zu haben: Sie sind super aufgeschlossene, offenherzige und global denkende Menschen … Read moreGanesha, der olle Elephant

Erste Male 

Honeymoon-Phase. So wird die erste Zeit in einem fremden Land manchmal genannt. Weil alles zuerst rosiger erscheint, jede neue Entdeckung spannend und toll! Das ist auch gut so, ansonsten würde man diese ersten Tage vermutlich emotional gar nicht erst überleben. Und das trifft meine ersten paar zig Stunden hier eigentlich ziemlich auf den Kopf. Ich wohne in Bandra, einem für seinen prozentualen Expats-Gehalt berüchtigten Stadtteil Mumbais. Bandra liegt im Westen der Stadt und sein westlichster Streifen direkt am Meer. Über einen großen Hügel, genannt Pali Hill“ drängen sich Hochhausbauten portugiesischen Stils (zumindest hat man mir versichert, es sei portugiesisch), fast ebenso hohe rankenumwachsene Bäume und Palmen. Dazwischen findet man kleine einstöckige und enge Imbisse, Einkaufsläden und Cafés, schmale schattige Gassen und wendige, um die Ecken brausende Rikschas. Die terrassenförmige Hügellandschaft könnte auf einer kleinen karibischen Insel stehen und die von Sitzgelegenheiten gesäumte Promenade Venice Beach in Kalifornieren zieren. Der Haken: Hügel und Promenade stehen in einem nur mäßig wohlhabenden Teil einer indischen Wirtschaftsmetropole, nicht im reichen Kalifornien und auch nicht in der touristischen Karibik; und das Gesicht dieser süßen Verheißungen verzerrt sich: Die schmalen Gassen sind müllüberladen, genauso wie der Felsen-„Strand“ jenseits der Promenade und das Meer dahinter,  Alte und Kinder betteln auf den Straßen, magere Hunde und Katzen streifen wild und suizidal durch die Gegend, und der Verkehr in den bewohnten Teilen unterscheidet sich nur marginal von dem auf der überfüllten Ringstraße um den Bezirk. Doch alles was das heißt, ist, dass Bandra nach wie vor Indien ist, und ich bin eigentlich ziemlich dankbar, hier untergebracht zu sein. Den „Expatcharakter“ bemerke ich als Neuling praktisch gar nicht, die Gegend ist abends vergleichsweise ruhig, es gibt ein paar gute Essensgelegenheiten um die Ecke, und eine Promenade ist immer noch besser als keine Promenade! Es ist der sanfte Einstieg in diese Metropole, deren schiere Größe ich bislang immer noch nicht begriffen habe. Hier also erlebe ich meine indischen Ersten Male: Die erste 30° heiße Nacht, das erste Straßenessen und die Furcht um die Folgen, die erste hüftgroße Fledermaus am Abendhimmel, die erste unbekannte Frucht, die erste kleine Echse in der Küche, die ersten Sprachbarrieren mit dem Hausverwalter und den Sicherheitskräften, die erste, nicht ganz so kleine Kakerlake in der Küche, die ersten 3 Tage ohne Internet und Handynetz. Wie gut, dass es die Honeymoon-Phase gibt!

Instinkte eines Pfarrerssohn

Ich habe diese Tendenz, egal wohin ich komme, beinahe immer und sehr schnell auf irgendeine Form christlicher Phänomene zu stoßen. Vielleicht macht das die Übung aus zahlreichen Italienurlauben, deren Ziele aus schleierhaften Gründen immer auch eine oder mehrere Kirchen enthielten. Vielleicht ist diese Eigenartigkeit aber auch genetisch veranlagt: als zweifacher Pfarrerssohn liegt es mir eventuell einfach im Blut, instinktiv auf die nächstbeste Kirche zuzusteuern. Mein innerer, christlich veranlagter Kompass, wenn man so will. Sei es, wie es ist: Kirchen und Gottesdienste in fremden Kontexten sind womöglich sehr passende Exemplare für die Faszination, die ich Interkulturalität und Fremdheit im Allgemeinen entgegenbringe. Sie sind nämlich vergleichsweise offensichtliche Träger jenes faszinierenden Paradoxons, das kulturell andersartige Orte umgibt. Auf den in christlichen Kontexten aufgewachsenen Beobachter wirken sie sowohl überraschend vertraut, als auch unerwartet befremdlich. Vertraut deswegen, weil es ein faktisch übergreifendes Phänomen darstellt, das man aus der Heimat kennt und an vielen anderen Orten der Welt wiederfinden wird. Befremdlich dagegen, weil es phänomenologisch völlig anders auftritt, als die gewohnte Situation aus dem heimatlichen Kontext. Im Falle des Gottesdienstes fallen zum Beispiel und vor allem sprachlich andersartig gestaltete Elemente ins Auge (bzw ins Ohr): Die Liturgie des jeweiligen religiösen Kontextes entblößt ihre Andersartigkeit nicht nur durch eine völlig andere Sprache. Sondern mindestens genauso sehr durch die bestimmte Wortwahl, deren Elemente Träger der religiösen Botschaft sind. Diese berührt den fremden Beobachter in diesem Beispiel am tiefsten, ist doch gerade die in der Liturgie verankerte Rhetorik das Element, das dem Religiösen zu einem großen Teil seinen ritualistischen Charakter und damit dem Teilnehmer die Vertrautheit verleiht. [stag_video src=“https://youtu.be/be9aPnMlTts“] In der Erfahrung des Fremden wird diese Vertrautheit nun insofern betrogen, als dass sich das, was wir in nurmehr einer Form kennen und wertschätzen, in völlig anderer Gestalt auftritt. Die meisten Menschen unserer neuen Umgebung werden jedoch an diesen für uns veränderten Formen sicher und enthusiastisch partizipieren. Genau das ist das Moment, in dem Fremdheit wahrgenommen wird. Denn wären wir alle diesen Situationen fremd, dann wären wir zumindest zwischenmenschlich nicht mehr verschieden und damit auch nicht derartig „fremd“ zueinander. Ich möchte das noch ein wenig auf die Spitze treiben. Und zwar behaupte ich, dass die Intensität des Fremdheitsgefühls mit der der ursprünglichen Vertrautheit zu einer Situation direkt zusammenhängt: Je ritualisierter, persönlicher, und emotional verbundener eine Situation aus dem bisherigen Alltag, desto tiefgreifender die Fremdheitserfahrung in anderen kulturellen Kontexten. Anders gesagt: Das völlig unbekannte Dhal ist höchstens aufregend; die überhaupt nicht als solche identifizierbare Pizza hingegen schockiert mich zutiefst! Ich wende mich in derartigen Fremdheitssituationen gerne ganz bewusst den Gemeinsamkeiten zu, die mich fremd anfühlenden Menschen wieder näher bringen. Interessanterweise finden sich diese, meiner Beobachtung nach, sehr häufig in Symbolen wieder, die interkulturelle, häufig sogar weltweite Bedeutungssymmetrien haben. Im Fall der Kirche sind die Symbole bekannt: Kirchenschiff, Gemeinde und Predigender, Gekreuzigter Christus. Zwischenmenschlich kann das ein Fingerzeig sein, eine leichte Berührung, ein Lächeln. Interkulturelle Dekodierung, leicht gemacht!

Wellen des Windes

Eigentlich wollte ich doch gar nicht nach Indien. Wenigstens nicht unbedingt. Aber so ist das eben, wenn man sich alle Optionen offen hält: Die Gefahr steigt, dass etwas unerwartetes daherkommt und plötzlich einen nicht unwesentlichen Teil des eigenen Lebens bestimmen wird. Ganz ehrlich? Genau danach habe ich aber gesucht. Wie langweilig wäre es geworden, auf eine Reise zu gehen, auf die ich perfekt vorbereitet bin! So beginnt es also. Irgendetwas, von dem ich keine Ahnung habe, was es ist und wie es wird. Alles, was meine Nerven beruhigen kann, ist die Gewissheit, dass es mein Leben in irgendeiner Weise mal wieder sehr nachhaltig verändern wird. Klar, ich habe mir schon einige Prophezeiungen geben lassen: Kulturschock, Diarrhoe, Korruption, Armut, Heimweh, Chaos, Malaria und Bollywood. Und nur auf etwa die Hälfte davon freue ich mich. Eigentlich bin ich ja auch dagegen, mir das Unerwartete von irgendwelchen Vorgängern und Weltenbummlern vorsagen zu lassen. Aber eine Youtuberin (GRRRLTRAVELER) hat es trotzdem geschafft, mir Laune auf die Erfahrung Indien zu machen: Ihre Zeit dort sei, so sagt sie, wie eine Achterbahnfahrt gewesen. Es gehe steil auf- und abwärts auf unberechenbaren Gleisen, und am Ende wolle man noch einmal fahren. Klingt genau richtig! Ich kann mich aber tatsächlich auf vieles freuen: Eine potentiell grandiose Praktikumsstelle [AES], 360° Exotik und wahrscheinlich Essen, das gelegentliche Magenverstimmungen um ein Vielfaches wert ist! Besonders freue ich mich aber auf das Ich, das in rund 6 Monaten zurückkehrt; ich sag von hieraus schonmal einen Gruß! Jetzt alle Segel in den Wind! Wer zuerst zurückschaut, hat verloren!