Ich verbrachte zehn Tage in einem Ökodorf-Projekt im mittleren Süden Indiens, in der Nähe von Bangalore. ProtoVillage, so heißt die Gemeinschaft, gründet sich auf der Idee, dass es für sozialen Wandel ein Vorzeigemodell geben muss, das in all seinen einzelnen Bestandteilen, Strukturen und Technologien als Referenz für weitere Projekte herangezogen werden kann. Momentan befindet sich ProtoVillage jedoch noch mitten in der Aufbauphase und die etwa fünfzehn Mitglieder leben, essen und schlafen alle gemeinsam unter einem Dach.
Ich war nun die letzten Tage das sechzehnten Rad am Wagen, um im Rahmen einer Feldforschung herauszufinden, nach welchem sprichwörtlichen Schatz in dieser bewusst zusammenlebenden Gemeinschaft gegraben wird. Mindestens genauso angestrengt habe ich jedoch auch in mir selbst gegraben, um eine erste Ahnung zu entwickeln, wie sehr mir die Idee einer ökologisch (und anderweitig) bewussten Gemeinschaft persönlich bekommt – denn auch die Wahl meines Forschungsortes fiel wohl nicht ganz ohne das eine oder andere versteckte, subjektive Interesse an diesem Konzept.
Für einen etwas ausführlicheren Einstieg in ProtoVillage und den Gründer Kalyan Akkipeddi, hier ein detaillierter Artikel. Dieser Logbucheintrag soll jedoch ein paar der ersten Reflektionen nach dieser Erfahrung festhalten.
Erstens.
Ein erstes Wow-Moment erlebte ich bereits weit vor meiner Ankunft, als ich mit Shobitha, der Frau Kalyans, Kontakt aufnahm, um die Konditionen und Verhältnisse eines möglichen Aufenthalts in ProtoVillage zu besprechen. Ich hatte ihre Nummer von meinem Kollegen und Freund Chandan erhalten und ihn auch gebeten, Shobitha vorzuwarnen, dass ich sie kontaktieren würde. Dennoch war ich sehr überrascht, als diese meine Anfrage völlig umwegs- und umstandslos absegnete und mir mitteilte, sie freue sich auf meine Ankunft. Ich habe lediglich einen Schlafsack mitzubringen, sollte ich denn einen besitzen; für die restliche Unterkunft und Verpflegung sei gesorgt. Und tatsächlich:In ProtoVillage angekommen wartete schon eine bezogene Matratze samt zusätzlicher Wolldecke auf mich und an jedem der folgenden Tage deckte sich der Tisch wie von selbst, weil in der Küche automatisch für mich mitgekocht wurde – und ich ließ dafür keinen Cent. Das soll jetzt nicht in Aufmunterung ausarten, sich ein Ticket nach Indien zu buchen und diese großzügige Gastfreundschaft bis über alle Grenzen auszureizen. Denn ProtoVillage baut momentan eigentlich noch bei weitem nicht genug an, um mich auf einer selbsterhaltenden Basis mit durchzufüttern – eigentlich ist nicht einmal für das knappe Dutzend dauerhaft anwesender Mitglieder genug auf den Feldern. Dennoch geben Kalyan und Shobitha weiterhin ohne mit der Wimper zu zucken Geld für jeden gerade auftauchenden Gast aus, von denen ich nur der jüngste in einer langen Reihe bin.
Der erste Teil der Erklärung hierfür ist logisch: Möchte sich eine Gemeinschaft als Vorzeigeprojekt portraitieren, muss sie jedem, vor allem aber ressourcenarmen Besuchern bedingungslos offenstehen. ProtoVillage trägt das aber noch weiter auf eine idealistische Ebene: In ihren eigenen Worten ist ProtoVillage wie dasjenige Haus einer Dorfgemeinschaft, das immer Unterkunft und Essen bereit hat, für jeden, der oder die da kommen mag. Diese unbedingte Barrierefreiheit ist an sich schon unglaublich großartig und wahrscheinlich ein Standard, den nur wenige vergleichbare Projekte zu erfüllen fähig oder bereit sind. Doch das ist nicht alles.
Zweitens.
Dieser unbedingten Toleranz gesellt sich in ProtoVillage eine scheinbar ebenfalls unbedingte Toleranz gegenüber jedes eigenen Tagesablaufes hinzu. Natürlich unterschreibt man als Besucher keinen Arbeitsvertrag und man hat auch keine formelle Übereinkunft darüber, wie viel man während seines Aufenthaltes für die Gemeinschaft zu leisten hat. Doch selbst auf informeller Ebene wird man weder ex- noch implizit dazu aufgefordert, ein bestimmtes tägliches Pensum oder derartiges zu erfüllen. Wieder in den Worten von Kalyan: Jeder leistet und tut das, wozu er oder sie Lust hat und worin seine oder ihre Passion besteht. Der Mehrwert für die Gemeinschaft entsteht automatisch.
Ich selber habe diese Toleranz während meines Aufenthaltes wohl sehr gut auf die Probe gestellt, habe ich doch an, relativ betrachtet, nur sehr wenigen produktiven Tätigkeiten außerhalb meiner Feldforschung teilgenommen und darüber auch nur allzu bald ein schlechtes Gewissen entwickelt.
Die Geduld und das offenkundige Vertrauen in meinen Wert für die Gemeinschaft blieb auf der Gegenseite dagegen unerschüttert.
Dieses Verhalten ist für mich bis jetzt noch sehr schwer zu verstehen. Ich selbst stand schon auf beiden Seiten des Messers, das einen Nutzen eines Menschen für diese oder jene Gruppe herauszusticheln versuchte – seien es freizeitliche, Arbeits- oder Wohngemeinschaften: Irgendwo wird immer ein Defizit am Gegenüber für den Erfolg des Gruppenziels festgestellt, ausgedrückt und wahlweise konfrontiert oder frustriert ausgeschwiegen. Ich habe dieses Phänomen auch bislang als ein notwendiges Übel angenommen und versucht zu akzeptieren. Und hier ist nun diese Gemeinschaft, die von vornerein ein scheinbar so tiefes Vertrauen in meinen Wert hat, dass es diesen in zehn Tagen hauptsächlichen Ausschlafens, Notizenmachens, Recherchierens oder schlichtwegem Rumlümmelns kein einziges Mal hinterfragt. Wie das funktioniert, möchte ich gerne herausfinden.
Drittens.
Auf die Gefahr hin dass das jetzt wie das Hohelied klingen wird, eine weitere beeindruckende Beobachtung:
Das Projekt geht voran. ProtoVillage hat wohl die schwierige Einstiegsphase, in der die meisten Ideen scheitern schon lange überwunden, ist aber gerade in sich selber noch lange nicht stabilisiert. Alle Teilnehmer leben auf engstem Raum unter einem Dach und die meisten nur mit dem Mund voller Reis und einem Versprechen an der Hand, dass irgendwann ein Haus nur für sie irgendwo dort stehen wird, wo momentan noch unbestelltes Land ist. Kombiniert mit der legeren Beschäftigungspolitik sollte man meinen, dass das Projekt binnen weniger Wochen zum Stillstands kommen sollte, doch das Gegenteil ist der Fall: Momentan wird an drei Baustellen gleichzeitig gebaut, der Küchengarten erweitert und nebenher noch ein Haushalt für über ein Dutzend Leute geschmissen.
Auch das Verhalten untereinander ist schier tadellos respekt- und beizeiten geradezu liebevoll. Das ist umso erstaunlicher, als dass viele Teilnehmer aus völlig unterschiedlichen sozialen Welten stammen und ein Aufeinandertreffen eigentlich wenigstens ab und zu Reibungen verursachen müsste. Keiner der Menschen in ProtoVillage ist perfekt und selbst mir gelang es in meiner kurzen Zeit dort den einen oder anderen möglichen Konfliktpunkt zu erkennen.
Einen ersten Hinweis, wie so etwas also klappen könnte, habe ich erneut einem Gespräch mit Kalyan entnommen: Um ein vollwertiges „Mitglied“ von ProtoVillage zu werden, muss man sechs Monate am Stück in der Gemeinschaft gelebt und in ihr gearbeitet haben. Erneut bin ich mir sicher, dass die Anforderungen für diese „Arbeit“ alles andere als in Stein gemeißelt sind. Eine derart langfristige Teilnahme am Gemeinschaftsleben sorgt aber sicherlich dafür, dass man seinen effektivsten Einfluss identifizieren und mögliche Passionen ausprobieren kann, um an der richtigen hängen zu bleiben. Und auf der sozialen Ebene mag vielleicht so etwas wie eine natürliche Selektion stattfinden, im Zuge der nur diejenigen bleiben, die in die Gemeinschaft passen. Im Hinblick darauf, wie ich selber behandelt wurde, scheint mir jedoch genauso wahrscheinlich, dass man die Leute schließlich schlichtweg und unweigerlich so sehr ins Herz schließt, dass es gar nicht erst zu irgendeiner Aussortierung kommen muss. Ich habe aber noch eine zweite Theorie.
Viertens.
Das Land hat seinen eigenen Rhythmus. Und seine eigenen Regeln. ProtoVillage liegt fünf Kilometer vom nächsten Dorf entfernt, in dem es ein paar kleine Läden für Lebensmittel, Gebrauchsgegenstände und Schuhe gibt. In der Gemeinschaft selber regiert das lokale Gemüse die Speisekarte und Volleyball den Zeitvertreib. Zwischenzeitlich wurden meine Kopfhörer und Kamera zum Grund allgemeiner Begeisterung, da man sich plötzlich diesen spannenden neuen Dingen widmen konnte. Abgesehen davon fühlt sich Landluft wie eine angenehme, stete Brise an. Wie sehr das vielleicht das Verhalten untereinander, sicherlich aber mein eigenes Gemüt beeinflusst, wurde mir erst klar, als ich wieder in der Großstadt Bangalore ankam und gleich innerhalb weniger Stunden und in schneller Folge alle emotionalen Lagen zwischen himmelhoch jauchzend und am Boden zerstört durchlief.
Ich kann schlecht für andere sprechen, mir wurde jedoch bewusst, wie sehr diese krassen Gefühlsschwankungen bei mir auf der Tagesordnung stehen, nehme ich am pulsierenden urbanen Alltag teil, atme ich die mich hin und her werfenden Böen der heftigen Stadtluft. Die Stadt stellt jedes denkbare und undenkbare sachliche und emotionale Angebot, und ich nutze, unbewusst oder unfreiwillig, einen verdammt großen Teil davon. Das Land kennt nur geringes Angebot und zwingt mich zum Stoismus, denn ohne Kick kein Absturz und kein erneuter Kick. Der Alltag ist durch seine Vertrautheit gesichert, und ich bin selbst der größte irreguläre Einfluss auf meine Umgebung. Das Land ist der sichere, mittlere, von emotionalen Schwankungen freie Weg – beinahe buddhistisch. Ein klein wenig zu buddhistisch für mich.
Natürlich würde ich gerne die Stadt um ihre Hochgefühle ausbeuten und alles Schlechte ausklammern. Bisher hat mir aber noch niemand gezeigt, wie das geht, und ich bin mit mir selbst zu der Übereinkunft gelangt, dass jedes Tief ein fairer Tausch für ein ebenso großes Hoch ist und ich dieses nicht wegen jenem missen möchte. Es mag eine Zeit kommen, in der ich anders denke, doch noch ist diese nicht.
Und deshalb bin ich, nach zehn Tagen beinahe einwandfreien Landlebens, nicht für den Rest meiner Tage in ProtoVillage geblieben, sondern stattdessen wieder gegangen. Gewissermaßen auf die gigantische Gefühlsachterbahn der Großstadt geflüchtet.
Lieber matthes, das ist sehr beeindruckend, was du da schilderst. Bin mal gespannt, wie deine sicht später in der erinnerung ist. Frage, was bleibt so, was wird teil deines lebensgefühls. Nun hoffe ich, dass du wohlauf bist, auch dank landluft und ausgiebigen schlafes. Du willst noch nach thailand? Aber dann haben wir die chance, dich wiederzusehen. Wir freuen uns auf dich! Liebe grüße dein opa. 🍀😀🇩🇪